200 Jahre nach der Erstveröffentlichung: der so eigentümliche wie bestrickende Versroman »Endymion« erstmals komplett auf Deutsch.
LYRIKEMPFEHLUNGEN 2019
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Die Empfehlung von Michael Krüger:
»Wenn man in Rom die Spanische Treppe hinuntergeht, kann man in das Zimmer blicken, in dem der englische Dichter John Keats mit 25 Jahren starb. Auf seinem Grabstein steht die berühmte Zeile: »Here lies One Whose Name was writ in Water«. Da täuschte er sich, denn spätestens seit der großen Studie von Andrew Motion ist Keats ein kanonischer Dichter, und dass er an Tuberkulose starb, hat seinen Nachruhm nicht beeinträchtigt. Er gehört mit Byron und Shelley zu den romantischen englischen Dichtern, die man einmal gelesen haben sollte, aber wer macht sich die Mühe, die »Ode an eine Nachtigall« oder die »Ode an eine Griechische Urne« zu studieren ? Mirko Bonné hat Jahre damit zugebracht, das erste große Gedicht von Keats, »Endymion« von 1818, zu übersetzen, das jetzt in einer sehr schön gestalteten Ausgabe zum ersten Mal vollständig auf Deutsch erschienen ist, mit einem klugen Vorwort von Jan Wagner. Die Verrisse damals, um 1818, waren verheerend! Umso mehr muss man Mirko Bonnés Ehrenrettung der allegorischen Liebesgeschichte zwischen dem Schäfer Endymion und der Mondgöttin Cynthia (Selene) lobend bewundern – und zugleich den Verlag feiern, der dieses schöne Buch produziert hat.«
»Ein Ding von Schönheit ist ein Glück für immer: / Es nimmt noch zu an Liebreiz; es wird nimmer / Ins Nichts vergehn«.
Nach dem so berühmten wie rätselhaften Auftakt von John Keats’ gut 4000 Verse umfassenden Epos Endymion, das 1818 in London erschien, entsteht Zeile für Zeile, Paarreim für Paarreim eine antike ländliche Szenerie mit Bäumen, Bächen, Schäfern. Die Hirten versammeln sich um einen Altar und beten zu Pan. Während die Jungen singen und tanzen, unterhalten sich die Älteren über ihre Vorstellungen vom Jenseits. Endymion allerdings, der „hirnkranke Hirtenfürst“, ist in einem tranceähnlichen Zustand. Was plagt ihn? Er erzählt seiner Schwester Peona von einem Traum, in dem er der ihm fremden Cynthia begegnet und sich unsterblich in sie verliebt hat – ohne zu ahnen, wer sich hinter Cynthia verbirgt.
Eines der Lebensthemen des englischen Romantikers John Keats hat sich mit Macht den Stoff einer Handlung und Erzählung gesucht: Wie lässt sich das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit, Phantasie und Realitätssinn, von Fiktion und Fakt sprachlich, insbesondere poetisch, darstellen?
John Keats wurde 1795 als Sohn eines Mietstallpächters im Londoner Vorort Finsbury geboren. 1816 fand er Einlass in die antirestaurative Bohème um Hunt und Shelley. Verspottet als „Cockney“-Poet, schrieb er in den folgenden fünf Jahren Dichtungen und Briefe, die ihn zum bedeutendsten englisch-sprachigen Dichter nach Shakespeare und Milton machten. 1821 starb er 25-jährig in Rom an Schwindsucht. „Here lies One Whose Name was writ in Water“ – sein Grabspruch auf dem protestantischen Friedhof ist der Bitternis seines Lebens gewidmet, ist aber auch die letzte Erkenntnis dessen, was Keats „negative capability“ nannte: die Befähigung des poetischen Menschen, jedem Ereignis im „Tal der Seelenbildung“ offen und mutig entgegenzutreten.
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Neben Übersetzungen von u. a. Creeley, Cummings, Dickinson, James, Stevenson und Yeats veröffentlichte er preisgekrönte Romane und Gedichtbände sowie Erzählungen, Aufsätze und Reisejournale. Seine Romane Wie wir verschwinden (2009), Nie mehr Nacht (2013) und Lichter als der Tag (2017) waren für den Deutschen Buchpreis nominiert. Von Keats übersetzte Mirko Bonné neben dem Endymion auch Werke und Briefe (1995). 2016 erschien Die Poesie der Erde ist nie tot, eine Darstellung von John Keats’ Leben und Werk mit unveröffentlichten Gedichtübersetzungen.
Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt in Berlin. Neben Gedichtbänden – zuletzt Regentonnenvariationen (2014), Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte 2001–2015 (2016) sowie Die Live Butterfly Show (2018) – veröffentlichte er die Essaysammlungen Die Sandale des Propheten und Der verschlossene Raum (2016). Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und den Georg-Büchner-Preis (2017).